Lina Morawetz

Wo ist das Stadion jetzt?

Anmerkungen zu Wolfgang Thalers Fotografien des Gerhard-Hanappi-Stadions

Draußen wurde es plötzlich windig.

Die Angst des Tormanns beim Elfmeter, Peter Handke

Abriss vs. Niedergang

In fußläufiger Nähe des Wiener Hütteldorfer Bahnhofs liegt dieser leibhaftige Fußballplatz, jenes Gelände, auf dem einmal das Gerhard-Hanappi-Stadion, vulgo Sankt Hannapi, stand. Ich selbst habe die Stimmen vom legendären, 1977 eröffneten, Sankt Hanappi nie gehört und frage mich, was es heißt, einer grün-weißen Farbenkombination zuzujubeln? Ich habe nie der Spannung im Stadion entgegengefiebert, habe den Jubel, die Pfiffe und die bengalischen Feuer nicht erlebt, ich war kein Teil der Massen und habe auch den Westwind nicht auf meiner Haut gespürt. (Es heißt ja, aus architekturtechnischen Gegebenheiten habe im Stadion häufig ein Westwind geblasen.)

Es ist anzunehmen, dass meine Generation, die Generation derjenigen, die das Stadion nie gesehen haben, auch viele weitere utopieversprechende Dinge versäumt hat. Aber genau dieser gemeinsame Erfahrungsverlust und der Umgang mit dem Verschwundenen kann im Nachhinein wiederum einen Anfang darstellen. Denn so ein Verlust muss kein Abschluss sein; sondern der Prozess des Niedergangs von Dingen kann die Bedingung sein für ihre zukünftige Existenz – aus der Erinnerung heraus. Verlorene Dinge können in gefundenen und konstruierten, faktischen und fiktiven, öffentlichen und privaten, individuellen und kollektiven Archiven, etwa in Büchern und Fotografien, erfasst und für die Zukunft erhalten werden. Vorausgesetzt jemand nimmt sich ihrer an.

Kurz bevor das Stadion 2015 abgerissen wurde, hat Wolfgang Thaler das Hanappi-Stadion fotografisch festgehalten. Von diesen Fotografien soll hier die Rede sein. Es sind visuelle Zeitzeugen, die im Kontext des bevorstehenden Verlusts dieses Ortes entstanden sind. Der Zustand des Stadions – stetig im Wandel begriffen durch die Ab- und Benutzung, verweilt jetzt in den Fotografien in dem Augenblick kurz vor seinem Abriss. Bin ich bisher davon ausgegangen, dass Verschwinden nie ein Zustand, sondern immer ein Prozess von Negation ist, beweisen mir die vorliegenden Bilder nun das Gegenteil: Das Fußballstadion gibt es, die Flutlichtanlagen, den Rasen, die Spuren gibt es, Stahlseile gibt es, Betonwände gibt es, Pokale gibt es.

Die Abbildungen des Stadions kurz vor seinem Abriss sind nicht autonome Evidenz ihres eigenen künstlerischen Materials. Vielmehr ist der physische Verlust des Stadions der Grund für die Entstehung der Bilder. Dieser kausale Zusammenhang mag es überflüssig erscheinen lassen hervorzuheben, dass nichts außerhalb einer kulturellen oder sonstigen Ökonomie entsteht. Die Bildproduktion und ihre Auftragserteilung liegt eingebettet in soziale, ökonomische, technische und politische Bedingungen, die in den Bildern mitverhandelt wird. Die dokumentarische Bildserie der Kommunalarchitektur Sankt Hanappi ist gleichzeitig auch Reminiszenz an eine multifunktionale “Ikone”, die für einen im neoliberalen Weltbild der computergenerierten Abstraktion verschwindenden Sportbegriff steht. Das wird hier deshalb unterstrichen, weil die Existenz der Bilder eng zusammenhängt mit der Produktion und Konstruktion von Erinnerung und somit der Konservierung der Bilder der Wirklichkeit. In der Zukunft wird Sankt Hanappi von dem für 47,5 Millionen Euro neugebauten Allianzstadion ersetzt werden. Eine ovale, hermetische Arena mit Business Seats, Eventlogen und eigens abgezäunten Bereichen für Gästebusse wird den neuen Zeitgeist des Fußballs reflektieren.

Obwohl Fußballplätze Orte für Menschenansammlungen sind, lärmt in Thalers Bildern niemand herum. Keiner hofft, hält oder stürmt, keiner spielt. Dennoch ist in den Bildern die Abwesenheit der damals Jubelnden, Hoffenden und Spielenden zu spüren. Ihre Präsenz ist gerade durch die Abwesenheit von Körpern in den Bildern spürbar und fast hörbar. Dabei handelt es sich aber nicht um eine Idealisierung vergangener Zeit, gerade auch weil es dezidiert keine formalisierte Architekturfotografie ist. Die Frage nach der Darstellbarkeit von Geschichte und Geschichten mündet hier in die Übersetzung der brüchigen und letztlich verlorenen Stadionwirklichkeit in die visuelle Ebene, das Stadion wird “von überall her” erblickt. Die Perspektiven und Bildkompositionen korrespondieren mit der multifunktionalen, segmentierten Architektur des Stadions, die Blicke der Betrachtenden fallen durch die Fotos vielfältig in das Stadion hinein, sie fallen von der Tribüne hinunter auf die abwesenden Anderen, die jeder kennt (die Spieler), und andere Blickachsen richten sich etwa aus dem Feld heraus auf die Tribüne oder gen Himmel.

Die Bilder funktionieren dabei als eine Art visuelle Untersuchung darüber, wo genau bei dem alten rechteckigen Sankt-Hanappi, wo bei den vielen Fußballereignissen, wo bei dem Ereignis Fußball, und wo bei dem Bild selbst eigentlich das Außen beginnt, oder eben das Innen endet. Endet das Innen etwa bei den Spielfeldmarkierungen, bei der Eckfahne, oder in der technischen Zone (jenem abgegrenzten Raum außerhalb des Spielfelds, wo sich auf den grünen Schalensitzen die Trainer, Betreuer und Ersatzspieler aufhielten)? Endet das Innen an den ersten Stuhlreihen, dort, wo die Tribünen ansteigen, oder beginnt das Außen in den Eingangsbereichen, auf den Vorplätzen des Stadions, draußen, außerhalb des Stadions? Oder beginnt das Außen am Rande der Stadt, am Rande des Staates usw., oder beginnt das Außen mit dem Beginn der Fußballgeschichte? Beginnt es im Regieraum, in den Garderoben oder in der Bar, wo die Pokale standen? Oder wird das Innen etwa bei der zweiten Halbzeit porös, spaziert die Außenwelt mit dem Schlusspfiff herein, oder tut sie das erst beim nächsten Bild, bei der folgenden Aufnahme? Oder beginnt das Außen des Fußballs in Wahrheit auf unseren Bildschirmen, für welche die Stadien ja heute primär konzipiert werden?

Da ist ein immenses Gebäude, ein Rasen mit Markierungen auf grünem Grund, Kurven, von denen ich nicht weiß, wie sie heißen, und man riecht keinen Schweiß. Es gibt in den Bildern eine große Leere, den Schattens des Todes, der durch die Rahmung der Architektur, die für das Leben gebaut wurde, erlebbar wird. Enorme Stahlseilkonstruktionen sind in Nahaufnahme zu sehen, Netze und freistehende Absperrungen, vereinsamte Aufgänge, gelbe, rote und graue Farbfelder, Innenräume, verlassene Tische und abgeschlagene Treppenhäuser, ein fehlender Horizont, auch verstellte Blicke (wer hat was gesehen?) auf eine insgesamt saubergefegte Anlage, der man an vielen Spuren ansieht, dass sie belebt wurde, und es gibt Bäume, die Schatten auf diese Anlage werfen. Es liegt ein Schatten auf dem Stadion, aber es ist keiner, der sich bewegt, da ist kein Jubel, der verhallt, keine Sieger und keine Verlierer und auch nicht die geringsten Reste von Rauch sind zu sehen. Es gibt hier schon lange keine bengalischen Feuer mehr. Man betrachtet hier vielmehr Bilder, deren visueller Sog sich stark aus dem entleerten Stadionraum heraus generiert, und als fotografische Annäherung an die von dem Fußballspieler Gerhard Hanappi selbst geplante Stadionarchitektur sind Wolfgang Thalers Bilder vielleicht auch eine Art stille und aufmerksame Betrachtung des zentralen Nervensystems des Wiener Fußballs.

Das ehemals fest umrissene Hanappi-Stadion ist heute komplett verschwunden. Seine Flutlichtanlagen sind dunkel, und was wir betrachten, sehen wir nicht. Wo ist das Stadion jetzt? Heute ist es wohl eher das Erinnern, dass die Bilder erhellt.

Sehen ist keine Privatsache

Sehen ist keine Privatsache. Ein dokumentarischer Auftrag ist immer auch Ausdruck einer konservatorischen Erwartung mit Blick in Richtung Zukunft: dokumentieren, um etwas zu erhalten, um es erinnern zu können. Ein dokumentarisches Bild kann Vorstellungen und Bestand von Vergangenem für die Zukunft wiedererschaffen oder reartikulieren; dadurch kann ein Zugang zu vergangenen Zeiten, fremden Orten und Wissen erhalten bleiben. Es gibt jedoch die Dinge, die in Archive gelangen (in denen die sogenannten aufbewahrungswürdigen Dinge gesammelt werden), und es gibt andere Dinge, die nicht archiviert werden und sich außerhalb der Archive befinden. Laut Boris Groys ist der Raum außerhalb der Archive eine vermeintliche Sphäre des Profanen und Anderen, das dem Untergang und der Endlichkeit nahesteht. Aus dem profanen Raum wird ins Archiv aufgenommen, was als wichtig erachtet und Teil des allgemeinen Kanons werden soll – weil es die Welt außerhalb des Museums, des Archivs oder des Buches usw., besonders gut repräsentiert. Anderes wiederum wird gelegentlich aus den Archiven aussortiert, weil es scheinbar belanglos geworden ist. Darüber, was im Archiv repräsentiert werden soll, wer es verwaltet, und über seine Beschaffenheit bestimmen darf, gibt es natürlich einen Konflikt. Denn das Archiv repräsentiert das, was wichtig und von Bedeutung war, ist, und sein wird. Diese Fragen kann man als politisch bezeichnen: es geht um einen Repräsentationskampf, denn das Archiv ist eine Maschine zur Produktion von Erinnerung, es arbeitet sozusagen an einer Konstruktion von Wirklichkeit im Nachhinein. Gleichzeitig wird etwa Sport- und Architekturgeschichte, oder eben ihre Verknüpfung, durch ihre Dokumentation überhaupt erst produziert oder eben neu geschrieben. Die so geschaffenen Bilder konstruieren dann die zukünftige Vorstellung des abwesenden Objekts, sie schreiben sich also in die Vorstellung derjenigen ein, die das Stadion weder gesehen, noch die Spannung erlebt und auch den Westwind nicht gespürt haben. Die brisante Frage ist wohl, inwiefern die Bildsprache einer einzelnen Fotografin, eines einzelnen Fotografen oder einer Auftraggeberin eine (gefährliche) Macht über die Darstellung der Geschichte bekommt. Und was würde alles dem Vergessen anheim fallen, wenn das Hanappi Stadion aus dem Feld der Repräsentation verschwände? Das sogenannte Weststadion steht ja für Utopie, für irgendetwas mit Kathedrale – auf jeden Fall für etwas großes, dass die Imagination der Menschen fing und wahrscheinlich sogar ihr Bewusstsein verändern konnte, nicht unähnlich einer Religion. Fußball ist ein Feld des Kollektivismus und der Gruppenphantasie. Als Populärsport und Mediennarrativ ist Fußball heute eine gleichzeitige Logik gigantischer Kapitalproduktion und globaler Zerstörung, subalterner Kämpfe und chauvinistischem Nationalismus – im österreichischen wäre das vielleicht die Dialektik zwischen Maria Theresia und ihrem Franzl, als Liebespaar auf ihrem mächtigen Zinssarg sitzend und den Unterirdischen, die ihre Gummihände durch die Kanaldeckellöcher strecken, wie Marie Luise Kaschnitz 1973 in Orte. Aufzeichnungen schrieb.

Die gängigen Repräsentationsformen der Fußballwelt werden in Thalers Fotoserie in ein eher ambivalentes Licht getaucht, in ein Licht, das vielmehr die jene Aspekte des Gebäudes beleuchtet, die zu fragen scheinen: was bleibt, wenn das Spiel aus ist? Was bleibt wenn längst entschieden ist, wer gewonnen und wer verloren hat? Stützträger durchschneiden jetzt den Himmel im Bild entlang der geraden Achsen, gedruckt auf Papier. Das Stadion verweilt ohne Funktion, die Wärme der Sonne macht kein Geräusch, es knackt nichts im Schatten, es bläst kein Wind, Plastikbecher fallen nicht zu Boden und Gläser klirren keine, vor dem VIP-Club schweigen die Spatzen. Im Zentrum dieser visuellen Untersuchung am Unspektakulären steht jener Aspekt des Gebäudes, der in der Lage ist, Geschichtlichkeit auf andere, geradezu lakonische Art zu absorbieren: die fleischlose, harte, absplitternde, materielle Beschaffenheit. Eine Art Unabgeschlossenheit, etwas nicht-hermetisches. Die eine Agenda der Fotografien ist also eine mikromaterielle Spurensuche, die einen tief in das alte Stadionleben hinein führt. Die kleinen und großen Bauelemente, die Teile und Abschnitte, die spröden Sedimente, die Abtritte, die Aufkleber und Überschreibungen, die Kratzer, das Obszöne und das Abgenutzte, wird sichtbar. Das Profane, das Periphere, das Einmalige, das im Abseits stehende wird hier berührt, und es tritt in eine eigenwillige Beziehung mit den gesellschaftlich verbreiteten, spektakulären und schnellen Bildern, die man im allgemeinen von Stadien hat.

Die andere Agenda ist die der Perspektive. Damit meine ich, wie eingangs erwähnt, dass sich die Bildsprache auf die architektonischen und geschichtlichen Eigenarten des Stadions zurückfalten lässt, oder aus ihr herausgefaltet wird; die Bilder selbst sind in ihrer visuellen Sprache von der Beschaffenheit des Stadions nicht unbetroffen. Gleichzeitig ist Fußball ein Medienereignis, das gesellschaftlich weit verbreitete Bilder und Stereotypen generiert. Aber die dokumentarische Bilderstrecke Thalers entzieht sich diesem kommerziellen Potential des Ortes nicht, sondern thematisiert es. Weil sich Bilder immer auf bereits Vermitteltes beziehen, baut diese Fotoserie im Gegensatz und im Bewusstsein diesen Stereotypen mit Präzision auf die Gestreutheit und das Gewachsene, das in der Stadionarchitektur von Sankt Hanappi vorhanden ist: Ein Kessel, der eine Bühne sein kann, ein Feld, von allen Seiten einsehbar und inmitten von Masten, Gittern, Stickern, Bannern, Stahlseilen, Lautsprecheranlagen und immer wieder von den – nun – abgeschlagenen Farben grün, rot, gelb, rot-weiß, grün-weiß, und Eisenstühle von einem verblichenem rosa. Insofern weist die ausführliche Serie, die mittels gewählter fotografischer Techniken und Kompositionen konzeptuell ihren Blick eher aufs Leben als auf den Fußball ausrichtet, erkennbar auf die strukturell bedingte Unmöglichkeit hin, dem stereotypgeladenen Kontext zu entgehen. “Localization is pitiless,” zitiert Paul Virilio den Reisenden Viktor Segalen, der vom gnadenlosen Hier und Jetzt des Fakts spricht: ein Stadion ist ein Stadion ist ein Stadion.

Vom Westwind auf der Ost

Fotografien bergen das Potential zu zeigen, dass es so und nicht anders gewesen ist. Dokumentarische Fotografien haben oft den Anspruch, Sachverhalte höchster Evidenz zu sein, weil sie etwas unzweifelbar erkennbar machen können – demnach bleibt und ist vermeintlich alles im Bild. Trotzdem bleibt die Leere in jedem Bild immer ein Teil des Narrativs. Wer oder was wird ausgeschlossen, was geht verloren?

Da liegt ein Hauch von Abstraktion und die Unterstellung eines Zitats im Bild (Wo ist dieser Augenblick geblieben?). Und weil diese Abwesenheit andauert, löst sie etwas in uns aus. Die erhaltenen Bilder verfransen sich während des Schauens zu einem neuen Objekt, zu einer neuen, asymmetrischen Erinnerung. Etwas ist da Draußen gewesen, aber wo ist es in den Bildern? Man schenkt plötzlich alltäglichen Dingen, wie Geländern und Treppen besondere Aufmerksamkeit, weil sie ins (Bild-)Zentrum gerückt werden. Man meint in ihnen eine Art Bestimmtheit zu erkennen, vielleicht Menschen und Geschichten. Beim weiteren Betrachten der Bilder “gelangt” man schließlich auf das freie, riesige, grüne Spielfeld, gerade so, als würde man als Spieler nach der ersten Halbzeit wieder aufs Feld hinaus laufen, nur liegt jetzt im Bildhintergrund die gespenstisch leere Tribüne mit ihren hochgeklappten Stühlen. Diese Bilder gehen das ein, was W.J.T. Mitchell das Risiko einer ‚unverantwortlichen’ Repräsentation nennt: sie machen bildsprachlich das „Stattdessen“ zum Ereignis: Das Großereignis Fußball scheint in diesen Bildern von geringerer Bedeutung zu sein. Die Betrachter der Fotos bekommen vielmehr Einblick in andere Dinge, nämlich wie das gebaute Zentrum der Fankultur eigentlich Beschaffen ist und wie man es eben auch – stattdessen – betrachten kann. Man begutachtet die vielfältige Patina des Gebäudes, streicht durch für Besucherinnen und Besucher unsichtbare Innenräume, etwa Räume, die eingerichtet sind für die Regeneration der Sportler, und man inspiziert die Garderobenräume und die Pokalvitrinen. Die Rückseiten und das Innenleben des Stadions rücken in den Vordergrund, kurz: ein Public Viewing, das man im positiven Sinne als unzutreffend bezeichnen könnte angesichts der milliardenfach medialisierten Bilder des Fußballspektakels, die sonst so auf den Bildschirmen zirkulieren. Die in der Fotoserie ebenso vorhandenen, zentralperspektivischen Bilder wirken dagegen wie ein gekonnter Erinnerungsblitz auf das vergangene Spektakel. In diesen Bildern scheint der große, konventionelle Fußball einen heilen Augenblick lang zu Wort kommen zu dürfen, nicht ohne jene häuslichen Vorhänge zu evozieren, die vielleicht in den Wohnanlagen der frühen fünfziger Jahre rund um das Stadion zugezogen wurden – oder geöffnet, in der Hoffnung einen quasi verbotenen Blick zu erhaschen, wenn abends die Flutlichter auf das Spielfeld leuchteten.

Eine Ordnung fehlt diesem multiperspektivischen Projekt nur scheinbar, vielmehr ist es das Festhalten eines letzten wichtigen Blickes auf den respektablen Wahnsinn einer Sport- und Fankultur, bevor diese auch in Wien endgültig eingewechselt wird gegen eine stereotypisierte Idee von Fußball.

Und wie hat er genau geblasen, der Westwind, von Westen, oder nach Westen? Der Westwind blies auf die ‘Ost’, ins Fleisch der Auswärtsfans, die auf der Ost hofften. Auf den bestehenden Trainingsplätzen außerhalb des ehemaligen Stadions suchen heute Scharen von Möwen und Krähen nach Futter. Ich höre, wenn ich dort draußen herumlaufe, den Ball auf den Torpfosten prallen. Wem leicht schwindelig wird, der lege sich an Ort und Stelle nieder. Man möchte sich ja manchmal gerne auf so ein Fußballfeld legen. Grün genug ist es. Und das Gras ist kurz. Man hört keine Knochen splittern, keine Hände klatschen und keine Sehnen reißen.

Mit zwei Ausnahmen sind die Bilder des alten Weststadions von der Abwesenheit von Körpern gekennzeichnet: Auf dem Ersten ist eine Gruppe von Athleten aus großer Distanz aufgenommen. Inmitten des grünen Rasens befinden sich kleine, schräg nach links geneigte Körper in roten und grünen Dressen. Man sieht die Gruppe durch den Rahmen einer leeren Ankündigungstafel, wodurch unweigerlich die Assoziation eines Bildschirmes geweckt wird. Die Fußballer sind hier also mitten im Bild, im Mittelpunkt des Stadions, im Zentrum des Spielfeldes in ein weiteres Bild eingefasst, welches wiederum umrahmt ist von den Tribünen und den Tribühnendächern. Im zweiten Bild hat der Fotograf sich und seine kleine Tochter, die ganz in rosarot gekleidet ist, auf dem unteren Bildrand selbst ins Spiel gebracht. Sie stehen außerhalb des Stadions auf einem betonierten Vorplatz vor der Kamera, die Bilder wurden mit einem Hochstativ aufgenommen und der Auslöser per Fernbedienung getätigt. Ist das ein Verweis darauf, dass das Bild dort beginnt, wo der Fotograf steht? Hier, vor der rückseitigen Tribüne, neben den Pfeilern der Flutlichtanlagen, die in den bewölkten Himmel eines sonnigen Tages ragen?

Das Changieren zwischen Innen und Außen, gefunden und konstruiert, wird mittels unterschiedlicher fotografischer Techniken (Fachkamera, Aus-der-Hand, flanierend, Hochstativ) und divergierender Perspektiven konstruiert und antizipiert. Das Hanappi-Stadion war eine gebaute Verfransung mit der Welt: informell, gewachsen, der Kontakt mit der Welt und das Brüchige lag tief in der Stadionarchitektur und steht auch in Thalers Bildern im Zentrum der Beobachtung. Die Fotos loten damit auch Möglichkeiten der Darstellbarkeit des Westwindes auf der Ost und seines Verschwindens aus. Was profan ist und was spezifisch, was wertvoll und was verwerflich ist, wird zur Disposition gestellt durch das unvermeidliche Korrespondieren der Bilder mit den exklusiven Stereotypen der Fußballwelt. Wenn mit dem Verschwinden des Stadions auch ein kulturelles Verständnis von Sport und dessen Reflexion in der gebauten Welt abreißt, sind die Bilder von Wolfgang Thaler nicht nur Zeugen der Vergangenheit, sondern auch Zeugen ihrer Brüchigkeit. Denn Erinnerungen sind hochgradig subjektive, selektive Rekonstruktionen. Angesichts solcher Dynamiken kann man anerkennen, dass man es nicht schaffen wird, die Realität in ihrer ursprünglichen Form zu rekonstruieren, weil ein Gebäude tausende Geschichten und Wahrheiten hat und haben muss.

Im Fall der vorliegenden Bilder wird diese Bewegung zwischen der kulturellen Ökonomie der Archive und dem visuellen Anlauf gegen den Weltverlust zur Bedingung der Existenz der Bilder. (Die Anlaufmetapher kommt aus dem Feld des Weitsprungs, nicht des Fußballs.) Heute gibt es kein Sankt Hanappi mehr. Aber es gibt Bilder, die einen weit hinein in eine vergangene Zeit und Leidenschaft mitnehmen, bis hin zu einem fast erlebten Raum. Und am Ende war es so, dass der Tormann, der einen grellgelben Pullover anhatte, unbeweglich stehenblieb und der Elfmeterschütze ihm den Ball direkt in die Hände schoss.